Warum haben wir Dauerstress?

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Ich bin alt genug, um mich an eine Zeit zu erinnern, als ich meine beste Freundin anrufen und fragen konnte, ob sie am nächsten Tag Zeit hätte, und die Chancen standen gut, dass sie nichts vorhatte. Wenn ich heutzutage vergesse, zwei Wochen im Voraus zu planen, hat niemand mehr Zeit. Manche arbeiten, andere machen Sport, gehen zum Buchclub, zum Yoga oder zu irgendwelchen Meetings.

Nichts davon ist etwas Schlechtes, oder? Es ist nur, dass immer eine Menge los zu sein scheint. Selbst wenn jemand das Leben etwas langsamer angehen will, schafft er/sie es oft nicht oder verschiebt es ständig auf “nächsten Monat oder so”.

In diesem Artikel möchte ich untersuchen, was genau uns so beschäftigt.

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Wir sollten eigentlich mehr Zeit haben

Drehen wir mal die Uhr um etwa 120 Jahre zurück. Damals gab es keinen modernen Komfort wie etwa Waschmaschinen. Es gab fast keine Fertiggerichte, ganz zu schweigen Küchenmaschinen oder andere elektrische Geräte. Rasenmäher? Sicher nicht. Autos, Schnellzüge - Flugzeuge, um in Rekordzeit zu reisen? Fehlanzeige.

Wenn man mit jemandem sprechen wollte, musste man ihn/sie treffen. Wenn man ein Theaterstück, ein Konzert oder später einen Film sehen wollte, musste man an den betreffenden Veranstaltungsort - Fernsehen gab es keins und definitiv kein Internet. All das nahm mehr Zeit in Anspruch als auf dem Sofa sitzen und YouTube oder Netflix anklicken.

Von der Logik her sollten wir jede Menge freie Zeit haben. Warum also nicht?


Warum haben wir Dauerstress?

Wenn wir ehrlich sind, sollten wir nicht nur, wir könnten auch mehr Zeit haben. Wenn wir jeden Tag von der Arbeit nach Hause kämen und nichts als das Nötigste an Hausarbeit und Körperpflege erledigen würden, hätten wir Zeit.

  • Schlaf: 8 Stunden

  • Arbeit: 8 Stunden, plus 2 für Anziehen/Fahrtzeit

  • Hausarbeit: 2 Stunden

Wir lassen mal die Zeit weg, die es kostet, sich um kleine Kinder zu kümmern, weil das eine vorübergehende Lebensphase ist. Außerdem sind die meisten meiner KundInnen entweder kinderlos oder ihre Kinder haben bereits das Haus verlassen.

Das bedeutet, wir könnten großartige vier Stunden am Tag haben, um Freunde zu treffen und/oder Leidenschaften nachzugehen. Und trotzdem, zeig mir mal jemanden, der/die vier Stunden (oder auch nur zwei) täglich frei hat. Ich warte hier.

Die unangenehme Wahrheit ist, was uns so stresst, ist … wir selbst. Und es gibt einen guten Grund, warum wir das tun, sowohl im Arbeitsleben als auch in der Zeit, die frei sein sollte. Dieser Grund ist Stresssucht.

Ich habe schon öfter über Stressucht gesprochen. Kurz zusammengefasst macht Adrenalin uns “high” und wir gewöhnen uns so an dieses Gefühl, dass wir süchtig danach werden, während wir gleichzeitig immer erschöpfter sind und uns nach Frieden sehnen. Im Grunde haben wir Dauerstress, weil wir es uns auf einer bestimmten Ebene selbst so einrichten.

Soweit, so gut. Wenn du mir schon eine Weile folgst, hast du das alles bereits gehört. Was neu ist, sind die tiefergehenden Recherchen von wissenschaftlichen Artikeln und Studien, die ich in letzter Zeit angestellt habe, um die Frage zu beantworten, wie es passieren konnte, dass wir überhaupt nach Stress süchtig geworden sind.  

Schwarzweiß-Foto einer historischen Manufaktur mit vielen Näherinnen, die an mechanischen Nähmaschinen sitzen

Der Grund, warum wir Junkies sind

Es hat sich erwiesen, dass hinter Sucht oft Trauma steckt. Trauma kann von persönlichen Erfahrungen kommen, aber auch von unseren Vorfahren ererbt werden.

Nein, du hast dich nicht verlesen. Es gibt umfangreiche Belege dafür, dass Trauma von unseren Eltern und Großeltern vererbt werden kann, nicht nur durch den Mechanismus “das Opfer wird zum Täter”, sondern auch durch die Gene.

Es gibt viele Arten von kollektivem Trauma, die wir geerbt haben: Kriegstrauma, politische Aufruhr, Hungersnöte, Pandemien (denk an die Pest, nicht an Covid, da wir ja von der Geschichte sprechen) … die Liste geht weiter. Eine Art kollektiven Traumas, die ziemlich universell ist, hängt mit der Arbeit zusammen.

Unsere Vorstellung von den hart arbeitenden mittelalterlichen Bauern ist scheinbar ein wenig eindimensional. Viele Forscher, wie der deutsche Ökonom Holger Heide, haben rund um die Welt Belege gesammelt, die beweisen, dass Menschen früher viel weniger - und weniger strukturiert - gearbeitet haben als wir heutzutage. Bauern hatten während der Erntezeit viel zu tun, aber selbst da machten sie auch lange Pausen im Laufe des Tages. Handwerker in den Städten hatten oft Sonntag und Montag frei (ein Sprichwort lautete: “Sonntage sind für die Familie, Montage für Freunde”) und bis zu 100 Feiertage im Jahr.

Dann machte die Industrialisierung es erforderlich, dass die Leute immer mehr außerhalb ihres Zuhauses arbeiteten und sich an strenge Zeitpläne hielten. Das lief der menschlichen Natur so zuwider, dass es mit ziemlich drastischen Maßnahmen inklusive von heftigen Drohungen und Gewalt durchgesetzt werden musste. Forscher haben gezeigt, wie das in der kollektiven Psyche tiefe Narben hinterlassen und unsere Welt bis zum heutigen Tag signifikant geformt hat.

Frau sitzt an einem Tisch, der mit Papieren, einem Laptop, Zigaretten und einem Weinglas bedeckt ist, und stützt den Kopf in die Hände.

Auswirkungen dieses kollektiven Traumas

Seit vielen Generationen leben wir schon mit diesem kollektiven Trauma. Seine Auswirkungen sind überall, aber weil wir es gar nicht anders kennen, glauben wir, dass das normal ist. Hier ein paar Beispiele.

  • Der Mythos vom “hart Arbeiten”. Ich behaupte, dass niemand ganz immun dagegen ist. Wir vergöttern harte Arbeit, und es ist ungeheuer schwierig zuzugeben, wenn man irgendetwas anderes macht. Ich fühle mich immer noch oft schuldig und habe das Gefühl, dass mich die Leute als faulen Nichtsnutz betrachten. Was mich zum nächsten Punkt bringt …

  • Sich faul vorkommen, wenn man nicht viel um die Ohren hat. Wir haben ein verrücktes Bedürfnis, jede Minute des Tages mit Tätigkeit auszufüllen. Das ist nicht menschlich, ungesund und bringt uns offen gesagt um. Es fühlt sich nur normal an, weil wir traumatisiert sind!

  • Unsere Unfähigkeit, uns auszuruhen. Viele Menschen fühlen sich heutzutage schuldig, wenn sie Pausen einlegen oder sich ausruhen. Sie kommen zur Arbeit, obwohl sie krank sind (manchmal wird das sogar von ihnen erwartet). Sie sorgen dafür, dass auch die “Frei”zeit mit Tätigkeiten ausgefüllt ist. Dasitzen und nichts tun ist wie Folter, weil es eine Zeit in der Geschichte gab, wo das Strafe, Prügel oder sogar den Tod bedeuten konnte.

  • Psychische Probleme. Natürlich können psychische Probleme eine Vielzahl von Ursachen haben, aber ein Grund, warum sie in der modernen Gesellschaft so besonders häufig auftreten - obwohl wir kaum noch unmittelbaren Bedrohungen wie Hungersnöten oder Krieg ausgesetzt sind - ist dieses kollektive Trauma.

  • Sucht. Drogenmissbrauch und Zwangsverhalten sind weit verbreitet. Stresssucht ist nur ein weiteres Beispiel. Heide spricht sogar von Arbeitssucht, die sich manifestiert in Bemerkungen wie: “Wenn ich nicht zur Arbeit gehen müsste, wäre mir langweilig”, außerdem darin, dass manche Überstunden schrubben, obwohl es gar nicht nötig wäre, und in der Tatsache, dass viele Menschen kurz nach der Rente sterben, weil sie sich unnütz fühlen.

Ältere Frau auf einer Wiese am Meer

Der Ausweg

Der letztgenannte Punkt wurde in einem Artikel auf “TED Ideas” (auf Englisch) erwähnt, der mich zur Weißglut brachte, obwohl der Vorschlag darin im Grunde richtig ist: Wenn Angestellte nicht in Rente gingen, würden sie dem Verfall entgehen, der oft dem Rückzug aus der erwerbstätigen Arbeit folgt.

Ich habe jedoch einen Gegenvorschlag: Wie wäre es, wenn wir unser Selbstwertgefühl und Selbstgefühl auf etwas anderem aufbauen als auf dem Geldverdienen? Wie wäre es, wenn wir ein Leben von Leidenschaften und Bestimmung außerhalb unserer Jobs aufbauen? Wir müssten uns nicht vor der Pensionierung fürchten, wenn wir ein erfülltes Leben hätten und uns darauf freuten, sogar noch mehr Zeit zu haben, um all das zu tun, was wir lieben.

Vielleicht zeigt dir das, warum es bei meiner Arbeit um viel mehr geht als “Zeit für Hobbys schaffen”. Diese Veränderung ist lebensrettend. Wir müssen von unserem kollektiven Trauma heilen und echte Alternativen zu Stress und Arbeitssucht bieten; ansonsten bleiben wir darin gefangen, unglücklich, ausgebrannt und ohne das Gefühl loszuwerden, dass es im Leben eigentlich um mehr gehen sollte.

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